"Fukushima" als Aufgabe für die japanbezogene Forschung / "Fukushima" as a task for Japanese Studies

Seit der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 beschäftigt sich ─ vor allem unter kulturellen sowie kultur- und soziopolitischen Aspekten ─ die Japanologie der Goethe-Universität Frankfurt mit dem Thema „Fukushima“. In Einzelstudien, studentischen Gruppeninitiativen mit daraus resultierenden Abschlussarbeiten und verschiedenen, häufig kulturvergleichend und interdisziplinär angelegten Kooperationen und Forschungsverbünden (IZO, GiZO, Japanologie Leipzig, literaturkritik.de), die in Veröffentlichungen mündeten, wurden die Geschehnisse und Entwicklungen nach Erdbeben, Tsunami und atomarer Havarie im Nordosten Japans sukzessive dokumentiert. Als Grundlage der Recherchen dienen zum einen Medien- und Linkarchive, die zum Teil auf der im April 2011 ins Leben gerufenen Internet-Plattform "Textinitiative Fukushima" (TIF) öffentlich zur Verfügung gestellt werden; sie kann mittlerweile über 116.800 Zugriffe verzeichnen. Zum anderen wurde in der japanologischen Bibliothek eine Sondersammlung "Fukushima" angelegt, die aktuell ca. 500 Bände umfasst.

"Fukushima" bedeutet den zweiten sogenannten GAU nach Tschernobyl, eine weitere markante Zäsur der Technikgeschichte, ein Weltereignis im Hinblick auf die Umwelt- und Lebensbedingungen auf der Erde sowie das zweite atomare Ereignis für Japan, dem Land, auf das in der Endphase des Zweiten Weltkriegs 1945 die Atombomben „Little Boy“ (Hiroshima, 6. August)  und „Fat Man“ (Nagasaki, 9. August) und abgeworfen wurden.

Insofern sich Japan als relevanter Ort einer Kulturhistorie des Atomaren erweist, kommt dem Fach Japanologie die Aufgabe zu, sich intensiver als bislang mit dieser Charakteristik des Landes zu befassen. Dies beinhaltet eine Neubewertung älterer japanischer Quellen zu Hiroshima und Nagasaki, ebenso wie das Sammeln von Materialien zu Fukushima oder die Auseinandersetzung des Fachwissenschaftlers mit seiner Sonderrolle als Zeit- oder Augenzeuge der Situation nach 3/11. Forschung zu Fukushima bedeutet möglichweise eine Veränderung des japanologischen Kanons und einen Umbruch im Selbstverständnis des Fachs, das nicht nur den soziokulturellen / soziopolitischen  Entwicklungen entsprechend sein Untersuchungsspektrum erweitert, sondern zugleich seine Rolle als Kulturexperte, Regionalspezialist und Kulturvermittler zu hinterfragen hat.

Obwohl die Dinge als solche sich besser nicht ereignet hätten, was vor allem den unmittelbar Betroffenen in Tôhoku zu wünschen gewesen wäre, bilden sie nun den Ausgangspunkt für eine den Zeiten angemessene Japanforschung im Zeichen der Nuklearität. Forschungen zu den „Nuklearen Narrationen“ nehmen sich in erster Linie des Themas der literarisch-künstlerischen Repräsentation des Atomaren an; sie möchten zunächst kulturbezogene Felder erschließen – darunter die literarischen Aktivitäten nach "Fukushima" im Rahmen einer gegenwärtigen und historischen Katastrophenliteratur, Post-Fukushima-Fotografie und Film oder die Rolle von politischer bzw. sich repolitisierender Kunst während und nach 3/11.

Sondiert werden zudem länger vernachlässigte historische Dokumente, d.h. künstlerische, intellektuelle und kulturwissenschaftliche Kommentare zum Nuklearen, dessen Geschichte als globale Narration erfasst werden soll. Das Fallbeispiel Japan ─ mit seiner zweifachen Erfahrung ─ wird dann in multidisziplinäre wissenschaftliche Debatten um globale Zusammenhänge von Risikotechnologien, Umwelt und nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen, um politische Partizipation, bürgerliche Selbstermächtigung und Protest, die mediale und künstlerische Handhabung von Krisen im Bereich des Atomaren, die Rolle von Think Tanks und PR-Agenturen im Meinungsbildungsprozess sowie um die Rhetorik von Entscheidern und Eliten im 21. Jahrhundert transferiert ─ als zentrales Element eines nuklearen Diskurses, den es in seiner Gesamtheit noch darzustellen gilt.