Ratgeberliteratur: Praktische Ordnungsentwürfe und Konstituierung von Wirklichkeit


Unter den vielen Formen der Literatur scheint der praktische Ratgeber von geringer historischer Bedeutung zu sein. Was als intellektuelle Seichtigkeit wahrgenommen werden mag, könnte den Mangel an wissenschaftlicher Aufmerksamkeit für dieses Genre erklären. Das ist umso erstaunlicher, als die Ratgeber und Lifestyle-Führer die Gesamtheit der menschlichen Existenz abdecken, von praktischen Belangen wie dem Kochen, über den Erfolg im Beruf und die Bewahrung von Gesundheit bis zu so gewichtigen Fragen, wie das Glück oder das Leben im Jenseits erlangt werden können. Diese Werke – nicht einzeln, sondern in ihrer Gesamtheit – enthalten das Wissen, das einer Gesellschaft oder Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung steht. Insofern sie Orientierung dafür bieten, wie man sich in einer Situation zu verhalten hat – oft in normstiftender Diktion –,  zeichnen sie die Grenzen nach, innerhalb derer menschliches Kommunizieren und Agieren sich abzuspielt. Sie konstituieren (oder streben es jedenfalls an) die Wirklichkeit, innerhalb derer gesellschaftliche und private Handlungen wie auch die zugrundeliegenden Dispositionen und Wertorientierungen ihren angemessenen Platz finden. Ratgeber bieten das an, wonach Menschen sich stets sehnen: Sie machen die Wirklichkeit beherrschbar.

In Japan hat sich seit dem 17. Jahrhundert eine reichhaltige Literatur von Hausenzyklopädien und Lebensratgebern entwickelt. Ihre Bedeutung ist bis in die Gegenwart hinein unverändert groß. Das lässt sich an der reichen Palette der Publikationen auf dem Buchmarkt, die für jede Lebenssituation eine Antwort bietet, ebenso ablesen wie an den “Manuals” (manyuaru), die in den Büros japanischer Unternehmen für Orientierung und Kontinuität in den verschiedensten Fragen des Geschäftslebens sorgen.

In ähnlicher Weise leisten die Schulbücher weit über das, was aus deutschen Schulbüchern bekannt ist, in einem sehr praktischen Sinn Orientierung für unterschiedliche Lebenslagen. Auch sie könnnen als ein Element gesehen werden, wie eine Gesellschaft versucht, die Wirklichkeit zu stiften, in der ihre jüngsten Mitglieder aufwachsen.

Diese Ratgeber, Enzyklopädien und didaktischen Werke in ihrer geschichtlichen Entwicklung und thematischen Auffächerung zu untersuchen, wird Gegenstand eines langfristigen, interdisziplinär angelegten Forschungsprojekts sein. Das Vorhaben besitzt eine Schnittstelle mit Lisette Gebhardts Forschungsschwerpunkt auf dem Gebiet der Ratgeber (ikikata no hon).

Die Aufmerksamkeit gilt den Äußerungen der enzyklopädischen und moral-didaktischen Literatur der frühen Neuzeit und der Neuzeit über die Grundsätze des Verhaltens am öffentlichen Platz. Ziel ist die Analyse der Aussagen, welche die zunehmende Fixierung und Verbreitung von dauerhaft anzutreffenden Verhaltensregeln ankündigen.