Dr. Lukas R.A. Wilde (Universität Tübingen): "Im Reich der Figuren: Medienwissenschaftliche Perspektiven auf und durch die 'Mangaisierung' des japanischen Alltags"

Wilde   im reich der figuren   cover motiv

In der Pariser Metro tritt seit 1977 ‚Serge le Lapin‘ auf, ein pinkfarbener Hase in ikonischem gelben Outfit, der auf Hinweisschildern ‚stellvertretend‘ für unachtsame Reisende in schließenden Zugtüren eingeklemmt wird. Seit 1993 kommt ‚Max Maulwurf‘ als bundesweite Arbeitsfigur der Deutschen Bahn (DB) zum Einsatz. DB behandelt ‚ihn‘ wie einen fiktiven Prominenten, zu dem allerdings keinerlei Narrative existieren. Insbesondere in Japan fand in den letzten Jahrzehnten eine intensive theoretische Auseinandersetzung mit Figurenkonzepten statt, die über keinerlei narrative und diegetische Einbettung verfügen. Etwa seit der Jahrtausendwende kommt keine japanische Gemeinde, keine Behörde und kein Amt mehr ohne repräsentatives Maskottchen aus. Wie ist eine solche Indienstnahme möglich, ‚was‘ genau wird hier instrumentalisiert? Viele Grundannahmen der interdisziplinären Figurentheorie sind für solche Wesen kaum haltbar; insbesondere, dass diese als Elemente einer fiktiven oder dargestellten Welt erachtet werden müssen. Stattdessen hat sich im Japanischen der Begriff ‚kyara‘, unterschieden von ‚kyarakutā‘ (Figur), als terminus technicus etabliert: imaginäre Performer, die in beliebige kyarakutā-Rollen schlüpfen (können), welche ihnen insbesondere in partizipatorischen Praxen vernetzter, konvergenter Medienökologien zugeschrieben werden. Die kulturwissenschaftliche Bedeutsamkeit all solcher Figurenkonzepte besteht darin, dass sie außerhalb Japans noch nicht systematisch untersucht wurden und damit auch kaum analytisch erfassbar sind – obgleich alltägliche Kommunikationsfiguren auch hierzulande zunehmend zum Einsatz kommen. Die Publikation Im Reich der Figuren (2018), über die der Vortrag einen Überblick bietet, entwickelt ein umfassendes theoretisches Fundament zur Konzeption und Analyse von ‚narrativlosen kyara-Wesen‘ als alltäglichen Kommunikationsfiguren.

Dr. Lukas R.A. Wilde ist akademischer Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“ der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er studierte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Gakugei Universität Tokyo in den Fächern Theater- und Medienwissenschaften, Japanologie und Philosophie. Von 2013 bis 2016 war er Promotionsstipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Im März 2017 schloss er ein medienwissenschaftliches Dissertationsprojekt ab, das unter der Betreuung von Prof. Dr. Klaus Sachs-Hombach (Medienwissenschaft) und Prof. Dr. Klaus Antoni (Japanologie) die ‚Mangaisierung‘ öffentlicher Räume in Japan und die Implementierung von transmedialen ‚Figuren‘ (kyara) in funktionaler Kommunikation zum Gegenstand hatte. Er ist Schatzmeister im Vorstand der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor), Mitglied des Koordinationsteams der AG Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaften (GfM) sowie Co-Organisator der Webcomic-Initiative Comic Solidarity.


Datum:
15. November 2018, 18 Uhr c.t.
Ort: Campus Bockenheim, Gebäude Juridicum, Raum 717

Die Veranstaltung kann besucht werden von Studierenden aller Semester des Faches Japanologie. Die Teilnahme und das Verfassen eines Protokolls werden im Sinne der Studienordnung für den Erwerb von CP (Modul J9) angerechnet.